LAMPEDUSA

Die Radiosendung “Das wilde Denken – Kulturanthropologische Gespräche” hat Gilles Reckinger, den Autor des Buches „Lampedusa. Begegnungen am Rande Europas“, zu Gast gehabt. Im Gespräch mit Ruth und Robin gibt Reckinger Einblicke in seine Feldforschung und seine persönlichen Erfahrungen sowie die inhaltlichen Erkenntnisse seiner Arbeit. Hier der Beitrag zum Nachhören:


 

Eine Buchvorstellung aus der Tortuga-Redaktion:

Lampedusa ist eine 20 km² große italienische Insel im Mittelmeer, 200 km von Sizilien entfernt, 130 km von der tunesischen Grenze. Dass sie überhaupt auf dem Radar der Medien aufscheint, müsste eigentlich Zufall sein – wäre Lampedusa nicht ein Symbol für die Tragödien der “Bootsflüchtlinge”, das durch die Medienberichte von der äußersten Grenze hinein in das Zentrum Europas katapultiert wurde. Die mediale Aufmerksamkeit zeichnet sich durch ihren so schnell erreichten Höhepunkt aus: ein Überfluss der Bilder, ein Augenblick, und die Augen sind wieder vor Lampedusa verschlossen. Doch dennoch ist dieser Fokus nicht spurlos an den Gedächtnissen der Menschen und der politischen Realität vorübergegangen – geblieben sind einseitig vermittelte Bilder, für die Lampedusa nun einzustehen hat und die kurzfristig gezogenen Konsequenzen in der europäischen Grenzpolitik, die, ähnlich ruckhaft wie Lampedusa auf den Titelseiten europäischer Medien auftauchte, zurück auf die “EU-Außengrenzen” projiziert werden und unbeachtet in der Peripherie weiterwirken.

Gilles Reckinger steigt mit “Lampedusa. Begegnungen am Rande Europas” dort ein, wo Medienberichte nie angekommen sind. Er spricht mit denen, die auf Lamepdusa leben, ob gerade im Mittelpunkt einer erhitzten Debatte oder fernab davon. Reckinger hat von 2008 bis 2011 mehrmals die Insel aufgesucht und mit den lampedusani über ihr Leben auf dieser Insel der Ambivalenz gesprochen. Dabei nimmt er sich vor allem eines: Zeit. Selbst beschreibt er sein Buch als ein Plädoyer für die Aufmerksamkeit, mit der es gilt, “ein möglichst breites Gespür (noch vor dem Verständnis) für die Komplexität, Vielschichtigkeit und Widersprüchlichkeit unserer Gesellschaft zu schaffen”1. Die Insel Lampedusa und ihre Gesellschaft ist von ihrem lokalen Kontext geprägt und dennoch zeitgleich ein Spiegel momentaner wirtschaftlicher und politischer Strukturen, deren Auswirkungen bis an den Rand Europas und darüber hinaus getragen werden und so die urbanen Zentren des wohlhabenden Europas als alleinige Orte der Relevanz und Entwicklung dekonstruieren.

Reckinger sucht Zusammenhänge, versucht einen differenzierten Blick auf einen “Ort der Übergänge” zu schaffen. Wie gestaltet sich der Alltag auf dieser Insel der 5.700 lampedusani, die in ihren eigenen Rhythmen leben, zugleich geprägt von Eigenständigkeit und Abhängigkeit? Wie funktioniert die Organisation des eigenen Lebens, wenn die Einnahmequellen (fast) der gesamten Bevölkerung, an die Sommermonate gebunden sind und die Insel zeitweilig zu der der TouristInnen wird? Wie wird reagiert, wenn Lampedusa zum Austragungsort repressiver italienischer sowie europäischer Migrationspolitik und den lampedusani der eigene Handlungsrahmen genommen wird?

Über diese Realitäten fernab der eigenen lässt Reckinger die lampedusani in seinem Buch zahlreich selbst zu Wort kommen und schafft so einen Gegenpol zum Pendel der Medien, das scheinbar zwischen minutiöser und ausbleibender Berichterstattung hin und her schwingt. Reckinger stellt nachhaltig die Ausformungen der Migrationspolitik in Frage und beleuchtet ausschlaggebende Faktoren bei der Konsensbildung zum Torschluss der “Burg Europas” und dessen Auswirkungen. Die eigene, verschleierte mitteleuropäische Perspektive wird näher an die Realität herangebracht und die individuelle Rolle als EuropäerIn unwiderruflich hinterfragt. Neben einem Aufruf zur Reflexion schreit Reckingers Buch auch nach Solidarität, ein Schlagwort, freilich, das aber in der Realität (nicht nur) in Lampedusa praktische Anwendung findet und finden muss, um der trotz medialer Abwesenheit und politischer Kurzweiligkeit weiterbestehenden Migration nicht vor die Füße zu kotzen.

Gewissermaßen zelebriert Reckinger mit seinem Buch selbst Solidarität. Er widerspricht ausführlich der Hektik der Medien und der Passivität ihrer KonsumentInnen. Liest man Reckingers Version, ist es fast so, als gäbe sie den lampedusani einen Teil ihrer Geschichte zurück, als gäbe sie den MigrantInnen und lampedusani ihre Menschlichkeit und ihr Aufeinandertreffen als Menschen zurück. Das wäre das Mindeste, nachdem ihr Dasein für die verschiedensten Zwecke von der europäischen Politik und den Medien gekapert wurde – und weiterhin gekapert wird. Daher: Aufmerksamkeit und Solidarität!
(L.P.)

 

1 Reckinger, Gilles: Lampedusa. Begegnungen am Rande Europas. Wuppertal 2013: Peter Hammer Verlag S. 10

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