POLAROID

ich betrete die straßen dieser stadt zum ersten mal und erlaube mir das klischee in der dämmerung ziellos durch eine wieder fremde stadt zu streunen. ich bin müde und kann nicht mehr filtern was ich wahrnehmen müsste und was mir entgehen darf. ich mag es, das gefühl gibt mir etwas naivität mit, unvoreingenommenheit, ein mistkübel könnte gerade das kunstwerk eines straßenmuseums sein, den dom könnte ich glatt für einen schuppen verkennen. entlang einer wand baut sich ein gerüst auf, hinauf bis an die dächer. oben herum schwingen sich noch menschen und rufen sich zu. für einen moment sind mir die geräusche unklar, die auf die kommandos folgen. schrauben drehen sich, menschen beben mit dem bohrer mit, schutt fällt durch eine art kübelrutsche. für einen moment kann ich nicht entscheiden was passiert, baut


POLAROID BEI DÄMMERUNG
Elisabeth Pressl

man hier neues, reißt man hier ab? mir gefällt der gedanke und ich versuche mein vorwissen auszublenden, was baustellen dieser art üblicherweise bedeuten. stelle mir vor, dass hier genauso rückschritt stattfinden könnte, dass ein gebäude verschwindet und kein neues hochgezogen wird. der lärm verrät mir nicht – ist das fortschritt, ist das demerdbodengleichmachen. die menschen oben würden sich in beiden fällen gegen feierabend die hände reiben und sich dem gefühl getaner arbeit hingeben. ich weiß es nicht, ich bin zu müde. ich verträume mich in eine geschichte, in der das haus zuerst alt ist und neuem weichen muss. ich male mir die menschen aus, die hier weichen, ich male mir die aus, die in zukunft hier sein werden. vielleicht zum arbeiten, vielleicht zum wohnen, zum unterkommen, zum unterhalten. ich führe zwischen ihnen ein streitgespräch das glimpflich endet. dann male ich mir aus, dass die jahrelange leere, stille, hier an der ecke der straße nun keine blanke fläche mehr sein wird. ich male mir die hunde aus, die hier noch gestern hingesudelt haben, ich male mir die spaziergängerinnen aus, die im vorbeigehen das neue café entdecken. ich verliere mich im relativismus, finde alles gut und ein bisschen schlecht und vieles gute wirklich nicht nur gut, sehe jede seite, gebe allen recht. kommt drauf an, kommt drauf an. ich bin schon längst vorbei, geh’ nun neben den schienen einer tram entlang und verstehe jetzt wieder die geräusche um mich, püpüpüpü, man kann die straße jetzt überqueren, bim bim, aber bitte nicht vor der straßenbahn, erkenne die klingel eines fahrrades als die eines freundes, ich winke, vergesse das haus kurz, dreh’ mich dann aber um und will auf einmal wissen, was genau hier passiert. ich wünsche mir nun sehnlich, dass eine abrissbirne gegen die mauern donnern würde, nur damit ich verzeichnen könnte – aha, aus und vorbei ist die existenz dieses hauses. oder ein schild, wieso stand da kein schild, das mir mitteilt, neueröffnung nächste woche. es fuchst mich unglaublich, wieso kann ich nicht zuordnen, was ist und was nicht ist, und ob das was ist und wird, gut oder schlecht ist. wieso klingt der lärm des wiederaufbaus in meinen ohren gleich wie der des zerfalls? wieso ist es mir wichtig, jetzt in diesem moment zu wissen, wie die leute, die hier leben, dazu stehen, dass um diese uhrzeit noch schutt herunterkullert, freut sie das, halten sie es kaum mehr aus, vor lauter vorfreude auf die eröffnung nächste woche, trauern sie um die bank an der ecke, hat man hier früher kinder spielen gehört, wogegen jetzt business deals bei einer zigarette im hof besprochen werden – und welches der beiden ist die bessere wahl? ich will auf einmal schwarz auf weiß wissen, schwarz oder weiß. was heißt das, was ich höre? für andere, was für mich? warum spricht denn verdammt nochmal keiner darüber, wieso frage ich nicht irgendwo nach. ich werde mit zermürbender geschwindigkeit niedergeschlagener und wütend. ich muss ins bett oder in ein café, ich brauche stille, oder auch nicht. ich atme durch. schau’ zurück. vermutlich ein bau unter vielen, der passiert, weil unaufhaltsam etwas passiert. vermutlich kein auslöser leidenschaftlicher diskussionen über den inhalt des lärms. ich atme ein und aus. ich habe den überblick verloren. ich habe jenes geräusch für dieses gehalten, habe gedacht, was jetzt hier passiert ist von relevanz und werde wohl morgen am klo dasselbe denken. ich merke, alles bleibt oder nicht, alles passiert, um mich herum, ob ich es höre oder nicht, ob ich mich deswegen im kreis drehe oder nicht. einen moment lang verzage ich an diesem umgekehrten gefühl von vor noch einem augenblick. ist denn nun nichts mehr wichtig, nur weil alles wichtig sein könnte, ist denn jetzt laut gleich laut und mein lärm immer nur lärm, weil ich das ohr bin, durch das ich ihn aufnehme. zu meiner eigenen beruhigung setze ich gelassenheit nicht der ignoranz gegenüber und glaube an leidenschaft genauso wie an übermut. ich erlaube lärm und stille gemeinsam unter ein dach zu ziehen. ich bewahre mir das geräusch auf, eingefangen in meinen gefühlen, wo es mit meinem blut im kreis laufen wird, und später werde ich mich daran erinnern, so und so und so etwas einmal bei dämmerung in dieser stadt gehört zu haben, ohne mehr wissen zu müssen ob schwarz oder weiß.

Dieser Text von Elisabeth Pressl wurde in der zweiten tortuga-Ausgabe veröffentlicht.

Titelbild: Ausschnitt aus dem Foto „Image Noise“ von Alexander Gebetsroither

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